Sonntag, 17. Oktober 2010

Einen Briefumschlag macht man auf und zieht etwas heraus, das beißt oder sticht, obwohl es kein Tier ist.

Mit gerade 199 Seiten mal wieder ein schmaler Band ist: NACH MITTERNACHT von Irmgard Keun (1937).


Frühjahr 1936: Susanne, genannt Sanne, ist 19 Jahre alt. Aus einem kleinen Ort an der Mosel zog sie erst nach Köln zu ihrer gefühlskalten Tante, wo sie in deren Schreibwarenladen arbeitete und sich in Franz, den Sohn ihrer Tante verliebte. Franz und Sanne wollten von ihrem ersparten Geld einen Zigarettenladen eröffnen, aber die Tante zeigte Sanne bei der Gestapo an und Sanne geht nach Frankfurt a.M. um bei ihrem Stiefbruder, dem ehemals erfolgreichen jetzt aber mit seinen Prinzipien und der neuen Regierung ringenden Schriftsteller, Algin und seiner Frau Liska zu leben. Mittlerweile ist einige Zeit vergangen - Franz taucht plötzlich nach langer Funkstille in Frankfurt auf - er ist auf der Flucht.


In diesem Roman erzählt Sanne selbst. Und sie ist keine Bildungsbürgerin, sondern ein ganz normales evtl. etwas naives, junges Mädchen, die nicht immer alles versteht was um sie herum vorgeht und auch nicht immer nachvollziehen kann, was die neuen deutschen Gesetze zu bedeuten haben. Vielleicht kennt Ihr die "Schulaufsätze" von Kurt Tucholsky z.B. Hitler und Goethe (zum Nachlesen, habe ich hier einfach mal einen Link geschaltet..) - Sannes Ton ist ähnlich. In dem Roman gibt es auch die Figur Heini, der als regimekritischer Journalist all das äußert, was Irmgard Keun Sanne wohl nur schlecht in den Mund legen konnte.

Der Roman ist zum Teil grausam (ich zu mindest bekomme die Sterbeszene im 2 Kapitel nicht aus dem Kopf - auch wenn es gewaltfrei von statten geht, ist es diese Szene, die mir auch nach Jahren im Gedächtnis stecken blieb..) und gibt vermutlich ein sehr genaues Bild der damaligen Verhältnisse, was für deutsche Romane der Zeit ja nun nicht gerade üblich ist. Irmgard Keun selbst ging 1936 mit ihrem damaligen Lebensgefährten Joseph Roth ins Exil in die Niederlande kehrte aber 1940 nach dem Einmarsch der Reichswehr dort - und der Trennung von Roth (1938) - wieder zurück nach Deutschland und lebte dort illegal. (- aber in einem Land deren Sprache auch ihr gehörte.) Erleichtert wurde ihr Leben dadurch, das mehrfach Todesmeldungen über sie veröffentlicht wurden.

Durch Sannes Sprache ist der Roman sehr direkt - typisch für Irmgard Keun, die immer so schrieb, wie ihre Figuren wohl sprechen und denken. Ich könnte noch weiter über Irmgard Keun dozieren - denn sie gehört eindeutig zu meinen Lieblingsautorinnen, aber das werde ich mir wohl für spätere Einträge vorbehalten..

Für diejenigen von Euch die an deutschen Dialekten interessiert sind oder etwa bestimmte Dialekte nicht ertragen, hier ein Hinweis bzw. eine Warnung: Ab und an wird hier kölsch gesprochen und für den norddeutschen Leser: Namen bekommen hier einen Artikel vorangesetzt: Es ist also der Algin, die Liska und das Bertchen.. :")
  • Woher nehmen: Der Roman ist in verschiedenen Auflagen (und zu unterschiedlichen Preisen..) als Taschenbuch erhältlich.

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